Patientenbericht Thorsten

2005 musste ich am Knie operiert werden, weil ich einen Knorpelschaden hatte. Die OP habe ich im Kreiskrankenhaus meiner Heimatstadt machen lassen. Vorher hat man mich da untersucht, aber die OP hat nicht der gleiche Arzt gemacht. Als ich aufgewacht bin, hatten sie mir das falsche Knie operiert. Ein Student, der bei der OP dabei war, sagte mir bei der Blutabnahme, der Arzt hätte gesehen, dass der Knorpel gut aussah. Aber weil das MRT-Bild etwas anderes gezeigt hätte, hätte er den Knorpel rasiert.  Der Arzt hat mir gegenüber am nächsten Morgen behauptet, dass der Knorpel an dem anderen Knie auch kaputt gewesen sei.

Eigentlich wollte ich sofort weg, aber das Knie hatte sich entzündet. Ich rief meinen Orthopäden an, der meinte, ich solle unbedingt bleiben, weil ich sonst noch mehr Probleme bekomme. In der kleine Stadt gab es kein anderes Krankenhaus. Ich bin mit entzündetem Knie nach ein paar Tagen entlassen worden. Mit der Entzündung hatte ich mehr als ein halbes Jahr zu tun. Ich war froh, noch einen Arzt zu haben, dem ich vertrauen konnte. Mein Orthopäde wollte den Film sehen, den sie während der Arthroskopie gemacht hatten. Den konnten Sie im Krankenhaus nicht mehr finden, ich hätte das vor der OP sagen müssen, wenn ich eine Aufnahme will.

Als ich sagte, dass ich gegen das Krankenhaus vorgehen wollte, wurde mein Orthopäde wütend. Er hat geschimpft, auch Ärzte könnten mal Fehler machen, ohne Angst haben zu müssen, von Patienten sofort vors Gericht gezerrt zu werden. Er könne einen Patienten, der so gegen Ärzte vorgeht, nicht mehr behandeln.

Bis dahin hatte ich kaum Zeit gehabt, nachzudenken. Als der Arzt so reagierte, ist alles auf mich eingebrochen.  Ich habe schlimme Depressionen bekommen. Monatelang bin nicht mehr rausgegangen. Freunde treffen wollte oder konnte ich nicht mehr. Entweder haben sie mich zugeschüttet mit ihren negativen Erfahrungen. Die anderen haben mir Vorwürfe gemacht, weil ich gegen das Krankenhaus geklagt habe. In unserer kleinen Stadt sind irgendwie alle mit dem Krankenhaus verknüpft. Man war ja auf die Hilfe angewiesen, also musste es gut sein. Ich bin dann weggezogen zu meinem Bruder in eine andere Stadt.

Das rechte Knie, das ursprünglich kaputt war, wurde immer schlimmer. Ich konnte mich aber nicht mehr operieren lassen. Irgendwann bekam ich dann auch Probleme in dem anderen Knie. Als ich vor lauter Schmerztabletten schon Magenprobleme bekommen habe, habe ich noch einmal ein MRT machen lassen von beiden Knien. Der Knorpel war fast völlig weg. Das hieß künstliches Gelenk auf beiden Seiten. Für das Gericht wurde ein Gutachten gemacht. Der Gutachter kam zum Ergebnis, dass ich den schlechten Zustand des rechten Knies selbst zu verantworten hätte, weil ich mich nicht hatte operieren lassen. Beim linken Knie sei nicht nachweisbar, dass der Knorpelschaden auf die OP zurückzuführen sei. Dafür könnte es auch andere Ursachen geben. Das Gericht entschied in den meisten Punkten für das Krankenhaus.

Die Depressionen kamen zurück. Zusätzlich Schlafstörungen und heftige Albträume. Als ich mich dann auch noch mit meinem Bruder verkracht habe, weil der nicht verstehen konnte, dass ich weiter klagen wollte, bin ich ganz weggezogen. Wegen der Knie und der Depressionen konnte ich nicht mehr im alten Job arbeiten. Ich hab mir dann irgendwas im Büro gesucht, aber deutlich weniger verdient. Als es nicht besser ging, habe ich eine Therapie angefangen. Die Psychologin war am Anfang ganz OK. Dann hat sie aber angefangen, mich zu manipulieren. Erst hintenrum, dann hat sie es mir direkt gesagt. Mein größtes Problem sei, dass ich mich meinen eigenen Fehlern nicht stellen würde und deshalb die Fehler bei Ärzten suchen würde. Ich sollte die Operation am falschen Knie als Chance begreifen, auf meine eigenen Probleme zu gucken und was mein Anteil sei, dass es so gelaufen ist. Ich habe die Therapie abgebrochen.

Im Moment versuche ich hinzubekommen, dass ich mich wieder operieren lassen kann. Ich will wenigstens keine Schmerzen mehr haben.

Behandlungstrauma, Behandlungsunfall, Behandlungsfehler

Wer sich mit psychischen Folgen eines Behandlungstraumas beschäftigt, muss das Problem zunächst eingrenzen. Dazu gehört auch einige zentrale Begriffe zu beschreiben. Der „Behandlungsfehler“ als Begriff ist durchaus gängig. Das bedeutet aber keinesfalls, dass es dafür eine einheitliche Definition gibt. Daneben verwenden wir noch die Begriffe Behandlungstrauma und Behandlungsunfall, die weniger bekannt sein dürften. Daher hier eine begriffliche Näherung, die wichtig ist, damit man sich über Dinge angemessen verständigen kann. Das gilt ganz besonders dann, wenn Begriffe auch emotional besetzt sind.

Zu weiteren Begriffen werden wir im Laufe der Zeit ein Glossar entwickeln.

Behandlungsfehler

Behandlungsfehler, Ärztepfusch, Kunstfehler – verschiedene Begriffe, die weit gehend das Gleiche meinen, bei deren Verwendung aber sehr unterschiedlich Emotionen und Wertungen mitschwingen. Uns ist an einer sachlich-konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Thema gelegen. Daher wird der Begriff Ärztepfusch hier keine Verwendung finden. Auch die Bezeichnung Kunstfehler lehnen wir ab. Während der „Pfusch“ nachlässig bis vorsätzliches Handeln impliziert, ist dies beim „Kunstfehler“ sprachlich reduziert auf eher fahrlässiges Tun. Was in die eine Richtung verschärft wird in der anderen also nicht sachgerecht entlastet.

Auch der Begriff des Behandlungsfehlers ist genau genommen wenig präzise. Damit ist die gesamte medizinische oder therapeutische Versorgung gemeint, also auch Diagnostik, Nachsorge und Prophylaxe.

Insbesondere für die Psychotherapie gilt, dass der Begriff des Behandlungsfehlers häufig vermieden wird. Es werden ausweichende Bezeichnungen verwendet wie Misserfolg, unerwünschter Verlauf, Störfall. Alles Begriffe, die geeignet sind zu verschleiern, dass hier fehlerhaftes Handeln vorliegt, das geeignet ist, Patienten schweren Schaden zuzufügen.

Diesen gesundheitlichen Schaden kann man nur dann wo möglich vermeiden und wenn das nicht gelingt lindern, wenn man klar benennt, was Hintergrund ist. Verschleiernde Begriff werden wir also hier nicht verwenden. Dass wir dennoch den noch weit gehend unbekannten Begriff des Behandlungsunfalls verwenden und prägen möchten, hat andere Gründe.

Behandlungsunfall

Der erste Grund, den Begriff Behandlungsunfall zu verwenden, liegt darin begründet, dass ein Behandlungsfehler nicht das einzige traumatische Ereignis ist, das im medizinisch-therapeutischen Kontext passieren kann. Auch auf andere Erfahrungen, wie zum Beispiel eine lange oder schwere intensivmedizinische Behandlung oder solche um eine komplikationsreiche Geburt trifft dies zu. Die psychischen Folgen für die Betroffenen können ähnlich sein. Aber auch die Folgen für den Umgang mit den Betroffenen sind sehr vergleichbar. Daher ist eine Trennung hinsichtlich vieler Aspekte nicht sinnvoll.

Der zweite wichtige Grund liegt in großen Auswirkungen auf den Umgang und die professionelle Versorgung nach einem solchen Ereignis. Diese sollte sofort einsetzen, sobald sich ein psychischer Schaden abzeichnet oder auch nur in Frage kommt. Es kann und darf nicht gewartet werden, bis irgendwann irgendwer offiziell festgestellt hat, dass ein Fehler vorliegt. Man enthält so notwendige Hilfe den Patienten vor. (Leider entspricht das der aktuellen Situation)

Der dritte Grund liegt darin, dass der Begriff Behandlungsfehler häufig auf sehr großen Widerstand bei den Handelnden stösst. Fehlerkultur ist noch nicht überall gelebte Praxis und steckt in einigen Bereichen noch in den Kinderschuhen. Dies und andere Ursachen führen dazu, dass Patienten gerade auch in der Folgebehandlung nach einem solchen Ereignis mit Widerstand und Abwehr in verschiedenen Ausprägungen zu tun haben, wenn sie das Problem offen benennen.

Der Begriff Behandlungsunfall ist neutraler und umfassender. Er meint ein – aus Perspektive des Opfers – von außen einwirkendes Ereignis, durch das ein gesundheitlicher Schaden verursacht wird. Eine eventuelle Verursacherfrage spielt im Zweifel eine Rolle, wenn es um materielle Schäden geht. Für die medizinisch-therapeutische Versorgung ist sie nachrangig, wenn nicht irrelevant.

Behandlungstrauma

Auch der Begriff des Behandlungstraumas ist noch nicht sehr weit verbreitet, wenngleich er bereits in der Psychotraumatologie erste Verwendung findet. Daher fehlt es bisher noch an einer klaren Abgrenzung. Letztlich ist aber das Trauma gemeint, das durch ein Ereignis entsteht, was hier als Behandlungsunfall bezeichnet wird.